- 11.05.22: Stadtbibliothek Stuttgart
- 31.12.21, 13:05: Deutschlandfunk Kultur
- 15.10.21: Science Slam, Erlangen
- Making Markets Just (pdf)
- Justice as Social Bargain and Optimization Problem (pdf)
- Growth imperatives: Substantiating a contested concept (SCED)
- Wachstumszwang – eine Übersicht (pdf)... mehr
zum Buch
@RichtersOliver
Unsere Lösung: gerechte und nachhaltige Marktwirtschaft
Um die identifizierten Probleme zu lösen, müssen die Ursachen bekämpft werden. Dies gelingt nicht mit kleinteiligen Regulierungsbemühungen, sondern dafür benötigen wir eine grundsätzlich richtige Wirtschaftsordnung. Der Beitrag, den wir in unserem Buch zur gesellschaftlichen Diskussion leisten, besteht in einer radikalen Neuinterpretation von „Marktwirtschaft als Konzept“:
- Wir zeigen, dass die soziale Utopie der Marktwirtschaft darin besteht, persönliche Wertschöpfung und Einkommen möglichst eng aneinander zu koppeln (was man als Leistungsgerechtigkeit oder kurz Leistungsprinzip bezeichnet) – und zwar über einen einfachen, dezentralen, sich selbst organisierenden Prozess ohne zentrale Planung.
- Wir verbinden die Begriffe und Konzepte der Marktwirtschaft (Geld, Gewinn, Wettbewerb, Zins, ...) konsequent mit dieser Idee der Leistungsgerechtigkeit, weil sie erst in dieser Verbindung ihren tieferen (und sehr menschlichen) sozialen Sinn offenbaren.
Warum echte Marktwirtschaft, und was bedeutet „echt“ dabei?
Wenn man nur analysiert, was in der real existierenden Marktwirtschaft alles schiefgeht, kann man eigentlich nur zu dem Schluss kommen, dass das ganze Modell nichts taugt. Wir möchten im Folgenden beschreiben, wie eine echte Marktwirtschaft aussehen könnte, wenn man ihre normativen Grundlagen ernst nimmt, sozusagen ihre soziale Utopie. Marktwirtschaft weist mehrere ganz praktische Vorteile auf:
Menschen haben ein Interesse am effizienten Austausch von wirtschaftlichen Leistungen. Dank unseres Sinns für Reziprozität gehorcht auch ein komplexes Austauschgeflecht ziemlich simplen Regeln. Durch die Nutzung von Geld genügt jeweils eine einzige Maßzahl als Wegweiser, nämlich der Preis für Konsumenten und der Gewinn als Differenz von Kosten und Erlösen für Unternehmer. Märkte sind in der Lage, politische Rahmenbedingungen und sonstige Restriktionen in monetäre Signale umzusetzen. Bei geeigneten politischen Rahmenbedingungen werden keine separaten Erfolgsrechnungen für ökologische Nachhaltigkeit oder soziale Gerechtigkeit benötigt. Die heutigen Forderungen, eigenständige Öko- oder Gemeinwohlbilanzen einzuführen, zeigen aber deutlich das Fehlen dieser Rahmenbedingungen auf.
Wirtschaftlicher Austausch kann mit jeweils wenigen Beteiligten und unvollständiger Information funktionieren, ohne dass man ihn „von oben“ kleinteilig lenken muss. Die Anpassung von Angebot und Nachfrage über Preise ist ein raffinierter, dezentraler Mechanismus zur stabilen Steuerung eines arbeitsteiligen Prozesses zwischen Unbekannten. Dass es sich um Unbekannte handelt, ist kein Kennzeichen eines sozialen Zerfalls, sondern im Gegenteil die Ausdehnung der Gültigkeit von Gerechtigkeitsnormen auch auf Fremde. Dies war über lange Zeiträume der Menschwerdung undenkbar bis schwierig und ist es in traditionellen Ökonomien teilweise heute noch. Aufgrund der Steuerungsfunktion über den Preis ist der Markt selbstregulierend: Angebot und Nachfrage kommen bei bestimmten Preisen immer wieder zu (temporären) Gleichgewichten, zumindest bei jenem Großteil der Güter, die regelmäßig und gleichmäßig nachgefragt werden. Der Preismechanismus ist ein geradezu geniales, indirektes Kommunikationsinstrument über den Wert von Leistungen. Geld ist das Medium dieser Kommunikation. Dank seiner Möglichkeit, „halbe Tauschgeschäfte“ sozial wirksam abzuschließen, ist eine weitgehende räumliche und zeitliche Trennung von Produzent und Konsument kein Hindernis, dementsprechend werden Arbeitsteilung und Spezialisierung sehr erleichtert.
Letztlich bedeutet die sogenannte „Effizienz des Marktes“ nichts anderes, als dass sich im Preisgefüge und der daraus resultierenden Güterproduktion und -verteilung die „Wunschverhältnisse“ der Menschen widerspiegeln. Marktwirtschaft sorgt mit wenig Aufwand dafür, dass die Sachen, die ausreichend nachgefragt werden, auch zu annehmbaren Preisen angeboten werden. Es gibt „Budgets“: Niemand kann mehr fordern als er leistet, vermittelt über ein transparentes, öffentliches Medium, nämlich Geld. Unser mentaler „sozialer Rechenapparat“ (Reziprozität) wird durch Geld optimal unterstützt. Wir werden in der Lage versetzt, viel einfacher und objektiver persönliche „Leistungskonten“ zu führen.
Die wichtigste Bedingung für einen funktionierenden Preismechanismus ist Wettbewerb. Nur Wettbewerb kann verhindern, dass einzelne Menschen die Bedürfnisse anderer ausnutzen und monopolistisch verzerrte Preise setzen können, seien es zu hohe Preise für eigene Leistungen oder zu niedrige Preise für die Leistungen anderer, beispielsweise Löhne. Wettbewerb sorgt dafür, dass die Preise exakt dem gesamtgesellschaftlichen Wert der individuell erbrachten Leistung entsprechen, genauer: Dass es zwar zufällige Preisabweichungen nach oben und unten geben kann, aber keine systematischen. Talent und Anstrengung sind zwar keine Garantie, aber doch eine reale Chance für ein angemessenes Einkommen – angemessen im Sinne des Leistungsprinzips.
Es geht letztlich nicht um Märkte, sondern um Effizienz. Märkte können einen großen Teil der sozialen Austauschprozesse gut abbilden. Es gibt aber sinnvolle und wichtige Privat- und Gemeingüter, deren Bereitstellung man besser nicht Märkten überlässt. Für Menschen, die aus persönlichen Gründen nicht hinreichend am gesellschaftlichen Produktionsprozess teilnehmen können, bietet der Markt keine Chance. Für diesen Fall kennen Gesellschaften seit jeher andere Mechanismen der sozialen Abfederung. Die Institutionen der Sozialversicherung sind eine großartige Errungenschaft, gegenseitige Hilfe institutionell zu vermitteln. Durch eine Verbesserung von Märkten werden sie davon entlastet, heute auch Menschen versorgen zu müssen, die arbeiten wollen, aber keine Arbeit finden oder vom Einkommen nicht leben können.
All dies stellt sich aber nicht automatisch ein. In Marktwirtschaften können beispielsweise leistungslose Einkommen erzielt werden – das ist das Gegenteil von Leistungsgerechtigkeit. Und wenn Menschen gar kein Einkommen haben und ihre Wünsche nicht durch Nachfrage artikulieren können, kann das Ergebnis auch nicht effizient sein. Wenn große Konzerne „too big to fail“ sind, sind Marktwirtschaften nicht robust. Die wünschenswerten Eigenschaften einer echten Marktwirtschaft können also erst mit geeigneten politischen Instrumenten realisiert werden. Der verbindende Gedanke dieser Instrumente ist: das Leistungsprinzip.
Gute politische Regulierung
Bislang sieht politische Regulierung in der Regel so aus, dass man soziale Probleme dort angeht, wo sie sichtbar werden: Die Löhne sind zu niedrig? Mindestlohn einführen! Zeitarbeit ufert aus? Überlassungsdauer beschränken und gleiche Bezahlung durchsetzen! Menschen können ihre Mieten nicht bezahlen? Mietpreisbremse einführen und Wohngeld erhöhen! Die Begründung lautet üblicherweise „Marktversagen“. Das Ergebnis sind schlechte Gesetze, die kompliziert und widersprüchlich sind, reichlich Lücken lassen, schwer durchsetzbar sind, viel Personal binden und im Ergebnis vor allem die Anständigen mit Bürokratie belasten. Das eigentliche Problem lösen sie meistens nicht, im Falle von Wohngeld subventionieren sie es sogar noch. Dabei versagt in solchen Fällen nicht „der Markt“, sondern die politische Regulierung, weil sie es nicht schafft, dem Leistungsprinzip Geltung zu verschaffen.
Unsere Vorschläge bestehen vor allem in der klugen Setzung von grundsätzlichen Grenzen. Grenzen haben speziell bei Liberalen keinen guten Ruf – sie stehen im Verdacht, das Gegenteil von Freiheit zu sein. Aber Grenzen können auch Freiheiten schaffen, nämlich neue und bessere Handlungsalternativen (Karl Homann). Mit unseren Vorschlägen würde Politik strukturell einfacher und billiger. Anschaulich gesprochen vermeidet sie teure Aufräumaktionen, indem sie das Haus von vornherein in besserer Ordnung hält und es gar nicht erst „so weit kommen lässt“.
Die Begrenzung ökologischer Zerstörung ist eine notwendige Vorbedingung für eine nachhaltige Entwicklung. Diese kann nicht gegen soziale Wünsche aufgerechnet werden. Verbräuche und Umweltschäden, die gar nicht erst entstehen, sind die beste Form von Nachhaltigkeitspolitik. Die bisherigen Anreize sind nicht groß genug, um innerhalb der planetarischen Grenzen zu bleiben. Solange aber das Gerechtigkeitsproblem nicht gelöst ist, ist eine Begrenzung ökologischer Zerstörung tatsächlich politisch „unrealistisch“.
Für soziale Gerechtigkeit müssen leistungslose Einkommen verhindert werden. Anstatt mittels Besteuerung, Subventionen und Sozialpolitik eine nachträgliche Umverteilung der Markteinkommen gegen vielfältige Widerstände durchzusetzen, würde man von vornherein die Gerechtigkeit der Markteinkommen verbessern. Das Ergebnis wären Einkommen durch „ehrliche Arbeit“ statt durch Ressourcenverbrauch und Marktmacht, und vor allem Einkommen für alle, ohne eine hohe Sockelarbeitslosigkeit, die überwiegend auf „technologischer Arbeitslosigkeit“ beruht. Leistung soll sich lohnen – das klingt sehr marktradikal, aber gerade die Vertreter eines wirtschaftlichen Liberalismus haben völlig falsche Vorstellungen davon, wo heutzutage das Leistungsprinzip verletzt wird.
Ökonomische Krisen werden heute durch einen ganzen Mix von Ursachen hervorgerufen, aber letztlich ist die gemeinsame Ursache der Versuch, soziale Gerechtigkeit mit den falschen Mitteln zu erreichen und dabei vielfältige Formen von Leistungsungerechtigkeit nicht zu beachten. Die milliardenschwere Förderung von technologischen Innovationen gießt buchstäblich noch Öl ins Feuer, indem sie langfristig „technologische Arbeitslosigkeit“ fördert.
Am stabilsten ist eine Ökonomie, wenn sie selbstregulierend ist. Eine „echte“ Marktwirtschaft kann das über den Preismechanismus eigentlich leisten – vorausgesetzt, die Preise sagen etwas über die Leistung der Menschen aus.
Durch die Umsetzung der von uns vorgeschlagenen Maßnahmen werden die Krisenursachen wirksam bekämpft, allerdings in einer eher indirekten Art und Weise: Wenn Leistungsgerechtigkeit sichergestellt ist, dann kann eine Marktwirtschaft sich selbst regulieren, weil keine „Wirtschaftspolitik“ im engeren Sinne und auch keine kleinteilige Regulierung mehr betrieben werden müssen. Politik hat aber den Rahmen zu setzen, und das mit aller politischen Macht. Aus den Details kann sie sich dann aber weitgehend heraushalten. Insofern könnte die alte liberale Forderung, die Politik möge nicht in den Markt eingreifen, Sinn ergeben – aber erst, wenn die Politik einen vernünftigen Markt geschaffen hat.
Zugegeben: Unsere Argumentationskette „Die Löhne sind zu niedrig, weil der Rohstoffverbrauch zu hoch ist“ ist relativ lang und nicht sofort einsichtig – nicht die beste Voraussetzung für den Entwurf politischer Maßnahmen. Aber wenn unsere Argumentation richtig ist, werden alle anderen Maßnahmen nicht funktionieren. Unseres Erachtens ist die bisherige Erfolglosigkeit sowohl der Ressourcenpolitik als auch der politischen Regulierungsversuche ein starkes Indiz.
Man kann einwenden, dass sich der Kapitalismus nie in dieser Weise begrenzen lassen wird. Dann muss man aber auch erklären, warum andere, weitaus utopischere, kompliziertere und willkürlichere Modelle höhere Erfolgschancen haben sollen. Wir halten die soziale Utopie einer freiheitlichen, gerechten und nachhaltigen Marktwirtschaft insofern für die realistischste aller unrealistischen Ideen.
Auf der nächsten Seite schlagen wir zu ihrer Umsetzung vier konkrete Maßnahmen vor.